Nicht-Entscheidungen aus Karlsruhe zu den Kosten der Unterkunft im SGB II

Am 14.11.2017 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zwei Entscheidungen zur Frage der Angemessenheit von Unterkunftskosten (KdU) in der wirtschaftlichen Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II ("Hartz IV") veröffentlicht. Das BVerfG hat den Vorlagebeschluss des SG Mainz vom 12.12.2014, S 3 AS 130/14 (Meldung vom 26.2.2015) als unzulässig zurückgewiesen (BVerfG, Beschluss vom 6.10.2017, 1 BvL 2/15).

Gleichzeitig hat das BVerfG eine Verfassungsbeschwerde, die dieselbe Rechtsfrage zum Gegenstand hatte (Meldung vom 3.3.2014, Interview Rosenow vom 19.9.2014 mit ausführlichen Erläuterungen zur Verfassungsbeschwerde zum AZ 1 BvR 617/14), durch Nichtannahmebeschluss zurückgewiesen (BVerfG, Beschluss vom, 10.10.2017, 1 BvR 617/14).

Beide Beschlüsse sind keine Entscheidungen in der Sache, sondern lediglich Entscheidungen darüber, dass das BVerfG nicht entscheidet. Gleichwohl hat die zurückweisende Kammer des BVerfG in der Begründung des Beschlusses vom 10.10.2017 ihre Auffassung zur der Frage, über die nicht entschieden wurde, in Grundzügen skizziert.

Einerseits weist die Kammer ausdrücklich darauf hin, dass „für die Angemessenheit die Umstände des Einzelfalls maßgeblich sind. Es ist also der konkrete Bedarf der Leistungsberechtigten einzelfallbezogen zu ermitteln“ (1 BvR 617/14, Rn 16). Dieser Hinweis ist deshalb hilfreich, weil die Praxis Einzelfallprüfungen insgesamt nur sehr unzureichend vornimmt.

Auf der anderen Seite ist der Entscheidung zum AZ 1 BvR 617/14 zu entnehmen, dass die Kammer der Auffassung ist, die sehr unbestimmte Regelung des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II könne durch die Verwaltung und die Gerichte hinreichend konkretisiert werden. Einer näheren Bestimmung durch den Gesetzgeber bedürfe es nicht. Das BVerfG hat sich dabei nicht mit den Erkenntnissen aus dem IWU-Gutachten, das im Auftrag des BMAS erstellt wurde und seit Januar 2017 vorliegt, auseinandergesetzt. Das Gutachten kommt u.a. zu folgenden Ergebnissen:

Im Rahmen der Kommunalbefragung wurde zudem deutlich, dass bei einer Vielzahl von Grundsicherungsträgern keine sachgerechte Tatsachenfeststellung vorgenommen wurde, sondern bei der Festlegung der Angemessenheitsgrenzen lediglich auf die wohngeldrechtlichen Höchstbeträge zurückgegriffen oder statistische Methodengrundsätze nicht berücksichtigt wurden. Insgesamt hat sich durch die bundesweite Befragung gezeigt, dass die Umsetzungspraxis sich nicht auf wenige Konzeptionstypen reduzieren lässt. Zugleich ist auffällig, dass sich die aktuelle Fachdiskussion sehr stark auf die verwendeten Datenquellen konzentriert und die Bedeutung der unterschiedlich vorgenommenen Schlussfolgerungen im weiteren Ermittlungsverfahren eher ausgeblendet wird. So hat sich bei den Fallstudienanalysen gezeigt, dass selbst bei grundsätzlich ähnlichen Bemessungsansätzen unterschiedliche Berechnungsschritte durchgeführt werden, die für das Ergebnis (die Höhe der Angemessenheitsgrenzen) große Bedeutung haben können.

In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig hervorzuheben, dass die letztliche Bedarfsdeckung von der Verfügbarkeit und damit im Zweifelsfall von der kommunalen Sicherstellung der Wohnversorgung bzw. der kommunalen Wohnfürsorge abhängt. Durch Leistungen nach § 22 SGB II und § 35 SGB XII werden lediglich Geldmittel zur Verfügung gestellt. Dabei hat sich insbesondere bei der Überprüfung der tatsächlichen Verfügbarkeit von angemessenen Wohnungen keine einheitliche Praxis entwickelt. (IWU-Gutachten S 254 f.)

Diese Ergebnisse lassen nicht darauf schließen, dass die gesetzlichen Bestimmungen zur Angemessenheit von Unterkunftskosten in der Weise hinreichend bestimmt sind, in der das BVerfG das im Urteil vom 9.2.2010 für geboten erachtet hat. Damals hat das BVerfG ausgeführt:

Zur Ermöglichung dieser verfassungsgerichtlichen Kontrolle besteht für den Gesetzgeber die Obliegenheit, die zur Bestimmung des Existenzminimums im Gesetzgebungsverfahren eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offenzulegen. Kommt er ihr nicht hinreichend nach, steht die Ermittlung des Existenzminimums bereits wegen dieser Mängel nicht mehr mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang. (BVerfG, 9.2.2010, 1 BvL 1/09, Rn 144)

Nachdem das BVerfG in beiden Verfahren gegen eine Entscheidung in der Sache entschieden hat, steht eine Grundsatzentscheidung des BVerfG zu den Kosten der Unterkunft im SGB II weiter aus. In diesem Zusammenhang sollte das BVerfG sich auch mit der Tatsache auseinandersetzen, dass die geltende Regelung auch im 13. Jahr nach Inkrafttreten des SGB II keine einheitliche und verlässliche Entscheidungspraxis der Jobcenter und der Sozialgerichte bewirken konnte.

Ergänzende Informationen zu den beiden Verfahren:

1. Vorlageverfahren 1 BvL 2/15

Der Beschluss vom 6.10.2017 zum AZ 1 BvL 2/15 basiert auf der Auffassung der Kammer des BVerfG, der Vorlagebeschluss des SG Mainz sei unzulässig. Zulässig ist eine Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG u.a. nur dann, wenn das vorlegende Gericht darlegt, dass die Rechtsfrage, die es dem BVerfG zur Prüfung vorlegt, für das Verfahren entscheidungserheblich ist. Entscheidungserheblich in diesem Sinne ist eine Rechtsfrage nur dann, wenn die Vorschrift, die das vorlegende Gericht für verfassungswidrig hält, mit den anerkannten Auslegungsmethoden nicht verfassungsgemäß ausgelegt werden kann. Der Vorlagebeschluss muss deshalb erkennen lassen, dass das vorlegende Gericht unter jedem erdenklichen Gesichtspunkt geprüft hat, ob eine verfassungskonforme Auslegung möglich ist.

Im Verfahren 1 BvL 2/15 hatte das SG Mainz die Auffassung vertreten, die Regelung in § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II, nach der der Träger der Leistungen nach dem SGB II Aufwendungen für die Unterkunft nur anerkennen muss, "soweit diese angemessen sind", verstoße gegen Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG (Kurz-Zusammenfassung, gekürzte Fassung).

2. Verfassungsbeschwerdeverfahren 1 BvR 617/14

Mit dem Beschluss vom 10.10.2017 hat das BVerfG die Verfassungsbeschwerde einer Klägerin nicht zur Entscheidung angenommen. Die Klägerin bezog Arbeitslosengeld II ("Hartz IV"). Das Jobcenter Freiburg Stadt war der Auffassung, die Miete der Klägerin sei unangemessen hoch, und kürzte die Leistungen nach dem SGB II dementsprechend. Die Klage führte zu dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 13.4.2011, mit dem das BSG das „schlüssige Konzept“ zur Bezifferung der Angemessenheitsgrenze der Stadt Freiburg, das die Instanzgerichte zuvor bestätigt hatten, verwarf (BSG, 13.4.2011, B 14 AS 106/10 R, Meldung vom 13.4.2011, Sendung Radio Dreyeckland). Im Dezember 2013 legte die Stadt Freiburg dann eine neues „schlüssiges Konzept“ vor. Eine städtische Studie aus dem Jahr 2014 ergab, dass auch nach Anwendung des neuen Konzepts ein hoher Teil von Leistungsempfängern – etwa 30% – einen Teil der Kosten ihrer Unterkunft aus dem Regelsatz finanzieren musste (Meldung Radio Dreyeckland).

Das neue Konzept aus dem Dezember 2013 wurde vom LSG Baden-Württemberg bestätigt (LSG BaWü, 21.6.2013, L 1 AS 3518/11 ZVW). Die darauf folgenden Nichtzulassungsbeschwerde wurde durch das BSG mit Beschluss vom 27.1.2014 zurückgewiesen (BSG, 27.1.2014, B 14 AS 317/13 B).

In ihrer Verfassungsbeschwerde trägt die Klägerin nicht vor, das Jobcenter habe jedwede Unterkunftskosten zu übernehmen, wie zT berichtet wurde (Tagesspiegel, juris, zdf). Vielmehr ging es um die Frage, ob die sehr offene Formulierung des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die einfachgesetzliche Ausgestaltung des grundrechtlichen Anspruchs auf ein soziokulturelles Existenzminimum genügt.

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