Bundesverfassungsgericht verweigert Entscheidung zu § 1a AsylbLG

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat eine Verfassungsbeschwerde gegen die Sanktionsvorschriften des § 1a AsylbLG nicht zur Entscheidung angenommen. Der Beschluss vom 12.5.2021 zum Aktenzeichen 1 BvR 2682/17 wurde dem Beschwerdeführer am vergangenen Dienstag zugestellt und im Anschluss veröffentlicht.

Dem Beschwerdeführer wurde vorgeworfen, am Asylverfahren nicht ausreichend mitzuwirken. Daher erhielt er von Januar 2013 bis Februar 2015 nur eingeschränkte Leistungen nach dem AsylbLG. Diese Leistungen erhielt er in Form von Gutscheinen, deren Wert etwa die Hälfte der regulären Leistung nach dem AsylbLG betrug (die bereits geringer ist als die Leistungen der wirtschaftlichen Grundsicherung nach dem SGB II und dem SGB XII). Bargeld erhielt er gar nicht.

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde durch Kammerbeschluss zurückgewiesen, weil sie nicht annahmefähig sei. Die Kammern des BVerfG bestehen aus drei Richterinnen und Richtern, die beiden Senate des BVerfG dagegen aus jeweils acht Richterinnen und Richtern. Die Prüfung durch das BVerfG erfolgt anders als die Prüfung der Fachgerichte in einem dreischrittigen Verfahren. Sie umfasst nicht nur Zulässigkeit und Begründetheit. Hinzu tritt die Annahmefähigkeit. Auch eine zulässige und begründete Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen, wenn sie nicht gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG annahmefähig ist.

Die Kammern sind befugt, nicht annahmefähige Verfassungsbeschwerden zurückzuweisen ( § 93b BVerfGG). Sie sind auch befugt, offensichtlich begründeten Verfassungsbeschwerden stattzugeben (§ 93c BVerfGG). Sie sind hingegen nicht befugt, eine zulässige und annahmefähige Verfassungsbeschwerde zurückzuweisen, weil sie unbegründet ist. Das ist alleine Sache der beiden Senate des BVerfG.

Im Verfahren wegen § 1a AsylbLG hat eine Kammer des BVerfG die Verfassungsbeschwerde ausdrücklich „nicht zur Entscheidung angenommen“ und dies, ebenfalls ganz ausdrücklich, damit begründet, dass die Verfassungsbeschwerde nicht begründet sei. Die Begründung der Entscheidung trägt damit nicht, was entschieden wurde. Annahmefähigkeit und Begründetheit sind unterschiedliche Kriterien. Wenn eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen wird, muss die Begründung (soweit der Nichtannahmebeschluss nicht ohne Begründung ergeht, § 93 Abs. 1 S. 3 BVerfGG) etwas zur Annahmefähigkeit – nicht zur Begründetheit – sagen.

Die Begründung des Beschlusses vom 12.5.2021 lässt keinen Zweifel daran, dass hier ausschließlich die Begründetheit der Verfassungsbeschwerde den Ausschlag für die Entscheidung gegeben hat. Doch damit hat die Kammer eine Entscheidung getroffen, die ihre Kompetenz überschreitet. Denn die Entscheidung über die Frage, ob eine Verfassungsbeschwerde begründet ist, obliegt alleine den beiden Senaten des BVerfG. Die Entscheidung dürfte daher gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verstoßen. Danach darf niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Der gesetzliche Richter ist im Fall der Frage, ob die Verfassungsbeschwerde gegen § 1a AsylbLG begründet ist, der 1. Senat des BVerfG, nicht die Kammer, die die Entscheidung getroffen hat. Die aktuelle Entscheidung ist kein Einzelfall. Schon lange ist zu beobachten, dass die Kammern des BVerfG wichtige verfassungsrechtliche Fragen dem Begründungstext nach materiell entscheiden, das aber in die Form einer (begründeten) Nichtannahmeentscheidung gießen. Wenn das BVerfG sich selbst nicht an das Gesetz hält, muss darüber gesprochen werden.

Die Begründung selbst, die wie meist in Fällen derartiger Kammerentscheidungen über die Annahmefähigkeit, die bei Licht besehen keine Entscheidungen über die Annahmefähigkeit sind, fällt recht knapp aus und ist materiell-rechtlich ebenso widersprüchlich wie der ganze Beschluss in prozessualer Hinsicht.

Zwar gelte, so die Begründung, was das BVerfG in den Entscheidungen vom 9.2.2010 (1 BvL 1/09) vom 12.7.2012 (1 BvL 10/10) entschieden hat, unverändert. Danach hat der Beschwerdeführer ein Recht auf Leistungen, die das soziokulturelle Existenzminimum decken. Es bleibe dabei, dass das Existenzminimum nicht aus migrationspolitischen Gründen relativiert werden dürfe. Doch obwohl der Beschwerdeführer nur Gutscheine im Wert von weniger als 50% des „Hartz IV”-Regelbedarfs erhielt, sei sein Recht auf ein soziokulturelles Existenzminimum nicht verletzt. § 1a AsylbLG konstituiere ein Recht auf das unabweisbar Gebotene. Der zuständige Sozialleistungsträger sei „nach § 1a AsylbLG a.F. klar und gerichtlich voll überprüfbar verpflichtet, das unabweisbar Gebotene zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz bedarfsorientiert zu leisten.” (Rn. 21) Der Beschwerdeführer habe nicht dargelegt, dass sein Bedarf durch die Leistungen, die er erhalten habe, nicht gedeckt sei. So kommt die Kammer zu folgendem Ergebnis:

„Der Gesetzgeber trägt mit § 1a AsylbLG a.F. in der Auslegung durch das Bundessozialgericht auch dem verfassungsrechtlichen Gebot Rechnung, im Ergebnis für jeden Menschen stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf realistisch zu sichern […]. Mit § 1a AsylbLG a.F. wird die Höhe der Leistungen insbesondere nicht generell-abstrakt oder pauschal gemindert und die Leistungen werden, wie das Bundessozialgericht betont, auch nicht aus migrationspolitischen Gründen generell abgesenkt […] oder anderweitig […] relativiert. Entscheidend bleibt vielmehr, dass im konkreten Fall nach dem persönlichen Bedarf und entsprechend objektiver Prüfung aller Umstände alle existenznotwendigen Bedarfe gedeckt werden. Die Leistung des 'unabweisbar Gebotenen' kann zwar im Ergebnis auch zu einer Absenkung der Leistungen führen; zwingend ist dies aber nicht. Sie ist rein bedarfsorientiert zu ermitteln.” (Rn. 23)

Die Kammer bemüht sich sichtlich, den Eindruck zu erwecken, ihre Entscheidung setze die Linie der Entscheidungen vom 9.2.2010, 18.7.2012, 23.7.2014 und 5.11.2019 über den Anspruch auf eine soziokulturelles Existenzminimum fort. Doch der Widerspruch springt ins Auge. Im Urteil vom 9.2.2010 führt das BVerfG aus:

„Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG hält den Gesetzgeber an, die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht im Hinblick auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums zu erfassen, die sich etwa in einer technisierten Informationsgesellschaft anders als früher darstellt. Die hierbei erforderlichen Wertungen kommen dem parlamentarischen Gesetzgeber zu. Ihm obliegt es, den Leistungsanspruch in Tatbestand und Rechtsfolge zu konkretisieren.

[…]

Zur Konkretisierung des Anspruchs hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen […]. Hierzu hat er zunächst die Bedarfsarten sowie die dafür aufzuwendenden Kosten zu ermitteln und auf dieser Basis die Höhe des Gesamtbedarfs zu bestimmen. Das Grundgesetz schreibt ihm dafür keine bestimmte Methode vor […]; er darf sie vielmehr im Rahmen der Tauglichkeit und Sachgerechtigkeit selbst auswählen. Abweichungen von der gewählten Methode bedürfen allerdings der sachlichen Rechtfertigung.” (Rn 138, 139)

Im Ergebnis: Wenn das BVerfG im Beschluss vom 12.5.2021 ausführt, die „verfassungsrechtlichen Maßgaben sind durch den Senat in den Entscheidungen vom 9. Februar 2010 […], vom 18. Juli 2012 […], vom 27. Juli 2016 […] und im Urteil zu sozialrechtlichen Sanktionen vom 5. November 2019 […] grundsätzlich geklärt”, dann ist das schlicht und ergreifend falsch.

Für die Praxis heißt das, dass es von nun an darum gehen wird, in jedem Einzelfall den soziokulturellen Bedarf darzulegen, ggf. vor Gericht. Die verfassungsrechtliche Frage, deren Beantwortung sich das BVerfG erst einmal verweigert hat, wird dadurch nicht gelöst. Es wird nur unübersichtlicher. Auf die Sozialgerichte kommen nun Verfahren zu, in denen sie im Detail darüber entscheiden müssen, was zum soziokulturellen Existenzminimum gehört und was nicht.

[Ergänzung 26.7.2021: Siehe auch Grundrechte hinter Stacheldraht. Das BVerfG zu § 1a AsylbLG ]

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