Eilrechtsschutz in der Sozialhilfe bei erheblichem Vermögen

Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG NRW) hat mit Beschluss vom 20.5.2021, Aktenzeichen L 9 SO 80/21 B ER, eine einstweilige Anordnung über Leistungen der Hilfe zur Pflege für eine 24-Stunden-Betreuung durch zwei Betreuungspersonen ausgesprochen. Das Gericht entscheid, dass das Vermögen des Antragstellers, das mehr als 440.000 € beträgt, der Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) nicht entgegensteht.

Der 19-jährige Antragsteller erlitt im Alter von 2 Jahren einen Autounfall. Im Zuge der folgenden Behandlung im Krankenhaus kam es zu einem schweren Behandlungsfehler, der eine erhebliche Behinderung verursachte. Der Antragsteller benötigt zwar nicht durchgängig Assistenz, aber es kann jederzeit zu einer Situation kommen, in der er zwei Assistenz leistende Personen zugleich benötigt. Daher ist die ständige Bereitschaft von zwei Personen erforderlich. Zu dem Rechtsstreit kam es, nachdem die Eltern diese Aufgabe nicht mehr übernehmen konnten, der Vater wegen Wiederaufnahme einer Berufstätigkeit und die Mutter wegen eines Krankenhausaufenthaltes. Die Kosten belaufen sich „für eine 24-Stunden-Pflegekraft […] auf 14.785 EUR pro Monat” (Rn. 25), insgesamt also auf fast 30.000 € pro Monat. Vorrangige Leistungen, u.a. der Pflegeversicherung, werden von den Leistungen der Hilfe zur Pflege in Anzug gebracht. Das Vermögen ist nicht einzusetzen, weil es aus der Zahlung von Schmerzensgeld herrührt (§ 90 Abs. 3 SGB XII bzw. § 139 Satz 3 SGB IX).

Der Antragsteller hatte sich zuerst an die Krankenversicherung gewandt, die den Antrag innerhalb der 14-Tagesfrist aus § 14 SGB IX an den Landschaftsverband Rheinland (LVR) als Träger der Eingliederungshilfe weiterleitete. Etwa zweieinhalb Monate später leitete der LVR den Antrag weiter an den für die Hilfe zur Pflege zuständigen Sozialhilfeträger (§ 16 Abs. 2 SGB I), weil nach seiner Auffassung kein Anspruch auf Teilhabeleistungen, sondern – lediglich – ein Anspruch auf Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII bestehe. Der Sozialhilfeträger lehnte zunächst ab, weil vorrangige Ansprüche auf Schadenersatz bestünden. Doch dies steht dem Anspruch auf Sozialleistungen nicht entgegen, da diese Ansprüche streitig sind (vgl. a. § 116 SGB X). Die Entscheidung enthält wichtige Grundsätze, deren Bedeutung über den zugrunde liegenden Einzelfall hinausreicht.

Bedarfsdeckungsgrundsatz der Hilfe zur Pflege

Dem LSG lag ein Gutachten vor, das nachvollziehbar bestätigte, dass „jederzeit unerwartete Bedarfssituationen entstehen können, die von einer Person allein nicht zu bewältigen sind” (Rn. 24). Daher ist die ständige Bereitschaft von zwei Assistenzkräften von Nöten. Bereitschaftszeit ist wie Vollarbeitszeit zu vergüten (Bundesarbeitsgericht, 24.6.2021, 5 AZR 505/20). Deshalb sind in diesem besonderen Fall rund um die Uhr zwei Assistenzkräfte erforderlich, für die der Sozialhilfeträger aufkommen muss, soweit keine vorrangigen Ansprüche bestehen.

Das LSG NRW bestätigt damit ohne Wenn und Aber, dass die Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII dem uneingeschränkten Bedarfsdeckungsprinzip unterliegt. Das gilt für betagte Menschen, die pflegebedürftig sind, in gleicher Weise. Der Beschluss zeigt damit nebenbei, dass die im Kontext der Diskussion um die Live-in Betreuung (sog. „24-Stunden-Pflegekräfte”) oft formulierte Behauptung, das zweigleisige System aus Pflegeversicherung und Hilfe zur Pflege decke nicht alle Bedarfe und treibe Betroffene so dazu, ihren Pflege- und Betreuungsbedarf durch ausbeuterische und damit illegale Beschäftigungsverhältnisse (§ 1 Abs. 3 Nr. 5 SchwarzArbG) zu decken, falsch ist.

Einstweiliger Rechtsschutz auch bei Vermögen

Verfügt ein Antragsteller über Vermögen, das für die Leistung nicht vorrangig eingesetzt werden muss, steht dies dem Erlass einer einstweiligen Anordnung grundsätzlich nicht entgegen. Das LSG NRW hat den Anordnungsgrund (Eilbedürftigkeit) in einem zweistufigen Verfahren und damit in vorbildlicher Weise geprüft. Es stellt zunächst fest, inwieweit Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund glaubhaft gemacht sind und legt im Übrigen eine Güter- und Folgenabwägung (dazu grundlegend LSG München, 28.1.2019, L 18 SO 320/18 B ER) zugrunde (Rn. 19).

Die Außerachtlassung von Vermögen, das nicht einzusetzen ist, ist für die Eingliederungshilfe nach dem 2. Teil des SGB IX von besonderer Bedeutung, weil das Schonvermögen hier rund 60.000 € beträgt (§ 139 Satz 2 SGB IX i.V.m. § 18 Abs. 1 SGB IX, § 2 Abs. 1 SVBezGr 2021).

Verhältnis Hilfe zur Pflege zur Eingliederungshilfe

Das LSG NRW hat zwar den für die Hilfe zur Pflege zuständigen Sozialhilfeträger verpflichtet, weist aber aber darauf hin, dass die Weiterleitung an den Sozialhilfeträger nicht richtig gewesen sein dürfte. Der Antragsteller habe „ein Recht auf gesellschaftliche Teilhabe” und mache davon auch Gebrauch. Daher dürfte der Träger der Eingliederungshilfe wegen § 103 Abs. 2 SGB IX auch für Leistungen der Pflege zuständig sein, die nicht vom Anspruch gegen die Pflegeversicherung erfasst sind. Das könne im Eilverfahren nach § 86b SGG jedoch offen bleiben, da der Sozialhilfeträger ggf. einen Anspruch auf Kostenerstattung gegen den Träger der Eingliederungshilfe hat. Dies ist im Rahmen der Folgenabwägung zulasten des Antragsgegners (also des Sozialhilfeträgers) zu berücksichtigen (Rn. 21).

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