Ein politischer Kompromiss: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den „Hartz-IV“-Sanktionen

Am gestrigen Dienstag hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) das lange erwartete Urteil über die Sanktionen im SGB II („Hartz IV“) verkündet. Das Gericht hat entschieden, dass Sanktionen bis zur Höhe von 30% des Regelsatzes verfassungsrechtlich zulässig sind. Die Regelungen, nach denen darüber hinausgehende Sanktionen verhängt werden können, sind nach dem Urteil ab sofort nicht mehr anwendbar. Nicht anwendbar sind die Sanktionsvorschriften auch

  • insoweit sie eine starre Dauer der Sanktion von drei Monaten vorschreiben,
  • insoweit sie es nicht erlauben, dass die Sanktion aufgehoben wird, wenn die leistungsberechtigte Person ihre Pflicht, die sie verletzt hatte, nach Verhängung der Sanktion nachkommt, und
  • insoweit eine Sanktion zwingend und ohne Härtefallprüfung zu verhängen ist.

Das BVerfG hat Übergangsregelungen erlassen, die ab sofort gelten:

  1. „Von einer Leistungsminderung kann abgesehen werden, wenn dies im konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde. Insbesondere kann von einer Minderung abgesehen werden, wenn nach Einschätzung der Behörde die Zwecke des Gesetzes nur erreicht werden können, indem eine Sanktion unterbleibt.“ Das gilt sowohl im Fall einer ersten Pflichtverletzung, als auch in Fällen wiederholter Pflichtverletzungen.
  2. „Wird die Mitwirkungspflicht erfüllt oder erklären sich Leistungsberechtigte nachträglich ernsthaft und nachhaltig bereit, ihren Pflichten nachzukommen, kann die zuständige Behörde unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls ab diesem Zeitpunkt die Leistung wieder in vollem Umfang erbringen. Die Minderung darf ab diesem Zeitpunkt nicht länger als einen Monat andauern.

Das Urteil gilt nicht für die Sanktionen gegen Personen, die noch nicht 25 Jahre alt sind. Diese sogenannten U-25-Sanktionen nach § 31a Abs. 2 SGB II waren nicht Gegenstand der Verfahrens vor dem BVerfG.

Die Begründung des Gerichts

Das BVerfG hält zunächst daran fest, dass der Menschenwürdegrundsatz aus Art. 1 GG auch einen Anspruch darauf enthalte, dass der Staat im Fall der wirtschaftlichen Bedürftigkeit eine existenzsichernde Leistung zur Verfügung stellt. Das Gericht unterstreicht, dass dieser Anspruch als einheitlicher Anspruch das gesamte Existenzminimum umfasse. Er könne daher nicht auf das zum schieren Überleben Unerlässliche beschränkt werden. Die Menschenwürde stehe jedem Menschen aus sich heraus zu – ohne Rücksicht auf sozialen Status und unabhängig von Leistungen. Sie müsse „nicht erarbeitet werden“, heißt es in der Entscheidung.

Diese Überlegungen sollten, möchte man meinen, die Zulässigkeit von Sanktionen ausschließen. Um Sanktionen dennoch als mit der Verfassung vereinbar erscheinen zu lassen, greift der 1. Senat des Verfassungsgerichtes auf den Nachrang von Grundsicherungsleistungen zurück. Der Staat muss existenzsichernde Leistungen nur dann zur Verfügung stellen, wenn jemand seine Existenz nicht aus eigener Kraft sichern kann. Daher besteht ein Anspruch von Verfassungs wegen dann nicht, wenn jemand über Einkommen oder Vermögen verfügt, das zur Existenzsicherung ausreicht. Sodann setzt der Senat die Möglichkeit, Mittel zur Existenzsicherung durch eigene Erwerbstätigkeit zu erwirtschaften oder dieser Möglichkeit durch eine Fortbildungsmaßnahme näher zu kommen, verfassungsrechtlich mit dem vorrangigen Verbrauch von Einkommen oder Vermögen gleich.

In der Begründung heißt es: „Der Gesetzgeber kann den Nachranggrundsatz nicht nur durch eine Pflicht zum vorrangigen Einsatz aktuell verfügbarer Mittel aus Einkommen, Vermögen oder Zuwendungen Dritter zur Geltung bringen […]. Das Grundgesetz steht auch einer Entscheidung des Gesetzgebers nicht entgegen, von denjenigen, die staatliche Leistungen der sozialen Sicherung in Anspruch nehmen, zu verlangen, an der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit selbst aktiv mitzuwirken oder die Bedürftigkeit gar nicht erst eintreten zu lassen.“

Mit anderen Worten: Das BVerfG versteht die Pflichten, die das Jobcenter den Betroffenen nach § 31 Abs. 1 SGB II auferlegen kann, als eine Hilfe, die aus verfassungsrechtlicher Sicht ebenso gut sei wie existenzsichernde Geldleistungen. Mit diesem Argument könnte man auch eine Totalsanktion rechtfertigen, was das BVerfG grundsätzlich auch ganz ausdrücklich tut.

Dennoch kommt der Senat zu dem Ergebnis, dass Sanktionen über mehr als 30% des Regelbedarfs jedenfalls zur Zeit verfassungswidrig seien. Um das begründen, greift er auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zurück. Er führt aus, dass die Wirksamkeit von Sanktionen wissenschaftlich nicht hinreichend belegt sei. Damit seien jedenfalls nach derzeitiger Erkenntnislage Sanktionen, mit denen mehr als 30% der Regelbedarfs vorenthalten werden, mit dem Menschenwürdegrundsatz des Grundgesetzes unvereinbar.

Die Rechtfertigung der Sanktionsvorschriften beruht damit auf zwei überraschenden Volten, die alles andere als überzeugend sind. Im ersten Schritt ruft der Senat die Geister der Sanktionsvorschriften herbei, indem er Pflichten nach § 31 Abs. 1 SGB II mit Grundsicherungsleistungen in einen Topf wirft und dem Gesetzgeber damit freistellt, ob er Steine oder Brot gibt. Im zweiten Schritt gebraucht er den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Zauberspruch, um die Geister, die er rief, zu bändigen. Doch die Ausführlichkeit der Begründung kann nicht verbergen, dass die 30%-Grenze, auf die der Senat sich wohl einigen konnte, sich argumentativ nicht begründen lässt.

Es springt ins Auge, dass das Urteil das Ergebnis eines politischen Kompromisses des Senats ist, kaum das Ergebnis einer rechtswissenschaftlichen Untersuchung der zu entscheidenden Rechtsfrage. Vielleicht enthält das Urteil dennoch mehr Licht als Schatten. Das BVerfG ist denjenigen entgegengetreten, die den Menschenwürdegrundsatz nicht so verstehen wollen, dass er auch einen Anspruch gegen den Staat auf Zurverfügungstellung eines soziokulturellen Existenzminimums enthält. Das ist leider nicht selbstverständlich. Noch im Sommer 2008 entschied das Bundessozialgericht, die Verfassung garantiere nur das zum schieren Überleben Notwendige und auch das nur dann, wenn der Staat es sich leisten könne (BSG, 22.4.2008, B 1 KR 19/07 R). Im Regelsatz-Urteil vom 9.2.2010 formulierte das BVerfG dagegen: „Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt.“ (BVerfG, 9.2.2010, 1 BvL 1/09, Rn 137)

Im Sanktionsverfahren musste das BVerfG die Gretchenfrage beantworten, die seitdem in der Luft lag: Wie können Sanktionen gerechtfertigt werden, wenn gilt, was im Urteil vom 9.2.2010 gesagt ist? Der Senat wollte, aus welchen Gründen auch immer, an den Sanktionen festhalten. Aber er hat das nicht zum Anlass genommen, die Entscheidung vom 9.2.2010 zu relativieren. Statt dessen tritt er die Flucht nach vorne an und zementiert, was das Gericht am 9.2.2010 entschieden hat. An diesem Maßstab müssen sich alle Vorschriften, die den Anspruch auf bedürftigkeitsabhängige existenzsichernde Leistungen ausgestalten oder Leistungen vorenthalten, messen lassen.

Die Begründung dafür, dass das BVerfG dessen ungeachtet Sanktionen bis zur Höhe von 30% des Regelbedarfes akzeptiert, erscheint daneben als politisches Statement, das in diesem Zusammenhang sehr bedauerlich ist. Doch das kann korrigiert werden.

Interview mit Radio Dreyeckland vom 5.11.2019

BVerfG, Urteil vom 5.11.2019, 1 BvL 7/16

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