Leistungsausschlüsse im SGB II für bestimmte Ausländer und für Auszubildende verfassungswidrig?

Das SG Mainz hat mit Beschluss vom 18.04.2016 – S 3 AS 149/16 –, der heute bekannt wurde, dem Bundesverfassungsgericht die folgenden Fragen gemäß Art. 100 Abs. 1 Grundgesetz zur Entscheidung vorgelegt:

a) Ist § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.05.2011 (BGBI. Teil I Nr. 23, S. 857) mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG – Sozialstaatlichkeit – und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar?

b) Ist § 7 Abs. 5 SGB II in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.05.2011 (BGBI. Teil I Nr. 23, S. 857), zuletzt geändert mit Wirkung zum 01.04.2012 durch Gesetz vom 20.12.2011 (BGBl. Teil I Nr. 69, S. 2917), mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG – Sozialstaatlichkeit – und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar?

Der Ausschluss von Ausländer/innen, die ein Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitssuche haben, von Leistungen nach dem SGB II (§ 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB II) wird zur Zeit sehr kontrovers diskutiert. Am 03.12.2015 hat das BSG entschieden, dass der Ausschluss zwar mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Allerdings bestehe nach einer Aufenthaltsdauer von sechs Monaten regelmäßig ein Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nach dem Recht der Sozialhilfe (siehe Meldung vom 04.05.2016).
In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird überwiegend die Auffassung vertreten, dass der Leistungsausschluss für Ausländerinnen und Ausländer, die ein Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitssuche haben, verfassungsrechtlich problematisch sei, Das Bundesverfassungsgericht müsse diese Frage entscheiden.

Die Bundesregierung hat auf die Urteile des BSG vom 03.12.2015 mit einem Gesetzesentwurf reagiert, der bewirken soll, dass auch der Anspruch auf sozialhilferechtliche Grundsicherung entfällt. Danach sollen ausländische Personen, die ein Aufenthaltsrecht um Zweck der Arbeitssuche haben, für die Dauer von fünf Jahren keine Leistungen nach dem SGB II bekommen. Sie sollen lediglich eine Überbrückungshilfe für vier Wochen und ggf. Unterstützung für die Kosten der Reise in ihr Herkunftsland erhalten (siehe Meldung vom 04.05.2016).

Der Beschluss des SG Mainz, der auch die Frage zum Gegenstand hat, ob der Leistungsausschluss für Auszubildende (§ 7 Abs. 5 SGB II) mit der Grundgesetz zu vereinbaren ist, ist damit hochaktuell. Wenn das Bundesverfassungsgericht dem SG Mainz folgt, wäre auch der aktuelle Gesetzesentwurf der Bundesregierung verfassungswidrig.

SG Mainz, 18.04.2016, S 3 AS 149/16

Pressemeldung SG Mainz

Leitsätze:

1. Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstößt gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art 20 Abs. 1 GG.
Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt (vgl. BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a. – Rn. 137). Die Gewährung existenzsichernder Leistungen darf deshalb nicht von der Erfüllung bestimmter Gegenleistungen, Handlungen oder Eigenschaften des Hilfebedürftigen oder von einem bestimmten Status des Hilfebedürftigen abhängig gemacht werden.

2. Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 5 SGB II verstößt ebenfalls gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art 20 Abs. 1 GG.
Es ist kein verfassungsrechtliches Argument ersichtlich, weshalb bestimmten Personen nur deshalb, weil sie eine Ausbildung oder ein Studium absolvieren, das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht zustehen sollte.

3. Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II greift tatbestandlich auch bei Personen, die über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 4 AufenthG oder § 18c AufenthG verfügen.

4. Der Verstoß gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II kann nicht durch einen Verweis auf die Möglichkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat vermieden oder gerechtfertigt werden (Fortführung von SG Mainz, Beschlüsse vom 02.09.2015 – S 3 AS 599/15 ER und vom 12.11.2015 – S 12 AS 946/15 ER).

5. Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstößt auch gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004. Der Gleichheitsverstoß kann nicht durch die Möglichkeiten gerechtfertigt werden, den Zugang zu nationalen Systemen der Sozialhilfe für Unionsbürger zu beschränken (vgl. Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG) (entgegen EuGH, Urteil vom 15.09.2015 – C-67/14 – Rn. 63).

6. Der vom Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffene Personenkreis hat keinen den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem 3. Kapitel des SGB XII. Vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffene Personen sind zwar nicht generell von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen. Die Gewährung der Leistungen steht jedoch im Ermessen der Behörde, was den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht genügt.

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Materialien zum Gesetzgebungsverfahren:

Zusammenstellung auf www.tacheles-sozialhilfe.de

Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins

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